Jahrelang stand Krafttraining im Verruf, Sportler langsam, unflexibel und „muskelbepackt“ zu machen. Mittlerweile hat sich dies geändert, jedoch gibt es immer noch einige widersprüchliche Forschungsergebnisse über die Auswirkungen von Krafttraining auf den Bewegungsumfang der Gelenke.
Als Beispiel dafür dient eine von Gadomski et al. (2023) durchgeführte Studie, die zu dem Entschluss kam, dass der Bewegungsumfang der Schulter bei Kraftdreikämpfern im Vergleich zu Nicht-Kraftdreikämpfern eingeschränkt sein kann. Eine neuere Studie von Spence et al. (2023) kam zu ähnlichen Ergebnissen. Eine Meta-Analyse aus dem Jahr 2021 über Längsschnittstudien ergab jedoch, dass Krafttraining den Bewegungsumfang tatsächlich vergrößert; in der Tat scheint Krafttraining bei der Verbesserung des Bewegungsumfangs genauso wirksam zu sein wie Dehnen (Afonso et al., 2021).
Wie können also diese scheinbar widersprüchlichen Ergebnisse erklärt werden?
An der Studie von Spencer et al. (2023) nahmen 12 männliche Leistungssportler und 13 männliche Freizeitkraftsportler teil. Die Forscher untersuchten die 1RM-Werte für Kniebeugen und Bankdrücken sowie den aktiven Bewegungsumfang von Schulter, Hüfte und Knie mittels Goniometrie. Sie verglichen den Bewegungsumfang der Gelenke zwischen den Kraftdreikämpfern und den Freizeitsportlern und bewerteten die Korrelationen zwischen dem Bewegungsumfang und den Wilks-Werten (Wert für relative Körpergewichtsstärke) in der Gesamtstichprobe (unter Verwendung der während der Studie durchgeführten Kraftmessungen Kniebeugen und Bankdrücken) und innerhalb der Kraftdreikämpferstichprobe (unter Verwendung der besten Wettkampfergebnisse der Teilnehmer).
Ergebnisse:
Die Kraftdreikämpfer hatten einen geringeren aktiven Bewegungsumfang in der Schulterextension und der horizontalen Schulterabduktion als die Freizeitkraftsportler. Sie wiesen auch eine geringere Hüftbeugung, Hüftstreckung und Hüftadduktion auf. In der gesamten Stichprobe stellten die Forscher fest, dass der Wilks-Score, also die relative Körpergewichtsstärke, negativ mit den Bewegungsbereichen Schulterextension, horizontale Schulterabduktion, Hüftbeugung, Hüftstreckung, Hüftadduktion und Hüftinnenrotation korrelieren. Mit anderen Worten: Eine geringere Range of Motion (Bewegungsfreiheit) sagte eine größere relative Kraft voraus. Auch in der Stichprobe der Kraftdreikämpfer korrelierten die Wilks-Werte negativ mit den Bewegungsbereichen Schulterextension, horizontale Schulteradduktion, horizontale Schulterabduktion, Hüftbeugung und Kniestreckung.
Wie können wir also diese Ergebnisse interpretieren?
Laut Greg Nuckols können diese Ergebnisse auf zwei verschiedene Arten interpretiert werden. Die erste ist, dass langfristiges Krafttraining den Bewegungsumfang in einigen Gelenken verringert, und die zweite ist, dass Menschen mit einem von Natur aus geringeren Schulter- und Hüftbewegungsumfang besonders gut für Kraftdreikampf geeignet sind.
Am wahrscheinlichsten hält Nuckols, dass der verringerte Bewegungsumfang voraussichtlich schlichtweg aufgrund der höheren Muskelmasse zustande kommt. So könne ein trainierter Bizeps und ein trainierter Unterarm eines Kraftsportlers, im Vergleich zu einem untrainierten Menschen beispielsweise zu einem verringerten Bewegungsspielraum im Ellenbogengelenk führen. Der Bewegungsspielraum ist hierbei einfach aufgrund des begrenzt komprimierbaren Gewebes zwischen Unterarm und Oberarmknochen eingeschränkt.
Ein weiterer indirekter Beweis für diese Erklärung ist, dass es bei den Frauen kaum Unterschiede im Bewegungsumfang bei Kraftdreikämpferinnen und bei Freizeitkraftsportlerinnen gab (Spence et al., 2021). Obwohl die relativen Raten der Hypertrophie- und Kraftzuwächse zwischen den Geschlechtern ähnlich sind, haben männliche Kraftdreikämpfer und Trainierende in absoluten Zahlen deutlich mehr Muskelmasse. Wenn schweres Training die Trainierenden einfach nur „steif“ machen würde, würde man erwarten, dass weibliche Kraftdreikämpfer auch einen reduzierten Bewegungsumfang haben. Wenn jedoch ein bestimmtes Maß an Muskulatur die Bewegungsbereiche aufgrund der begrenzten Komprimierbarkeit des Gewebes (und nicht der Dehnbarkeit) einschränkt, ist es durchaus möglich, dass die Mehrheit der Kraftdreikämpferinnen einfach das Ausmaß an Muskulatur nicht erreicht, das ausreichen würde, um den Bewegungsumfang einzuschränken.
Zusammenfassung:
Krafttraining scheint die Dehnbarkeit des Gewebes zu erhöhen, was den Bewegungsbereich bis zu einem gewissen Grad erhöht. Ab einer gewissen Menge an aufgebauter Muskelmasse, limitiert diese aber den Bewegungsumfang in einigen Gelenken, unabhängig von der Dehnbarkeit des Gewebes (Nuckols, 2023).
Über den Autor:
Oliver Kraus ist Inhaber/Head Coach bei PERSONALTRAININGWIEN.COM. Er ist ausgebildeter Sportwissenschafter spezialisiert auf Krafttraining. In seinen Abschlussarbeiten beschäftigte er sich mit Themen wie: „Die Länge der Satzpausen im Hypertrophie-orientierten Kraftsport bei trainierten Männern“ sowie „Die Auswirkungen eines 8-wöchigen Trainings der Kniebeuge auf andere dynamische Übungen der unteren Extremitäten“. Zusätzlich zu diesen Täigkeiten absolvierte er zahlreiche Aus- und Weiterbildungen im Bereich des Kraftsports aber auch in der Weiterentwicklung der sportartspezifischen konditionellen Fähigkeiten.
Quellen:
Nuckols, G. (2023). Does lifting reduce your range of motion?.
Gadomski, S.J, Ratamess, N.A & Cutrufello, P.T. (2018). Range of Motion Adaptations in Powerlifters.
Afonso, J. et al. (2021). Strength Training versus Stretching for Improving Range of Motion: A Systematic Review and Meta-Analysis.
Spence, A.J., Helms, E.R. & McGuigan, M.R. (2021). Range of Motion Is Not Reduced in National-Level New Zealand Female Powerlifters.
Aasa, U., Svartholm, I., Andersson, F. & Berglund, L. (2016). Injuries among weightlifters and powerlifters: a systematic review.